Vicky und die rätselhaften Fotos. Roman by Leona Gom

Vicky und die rätselhaften Fotos. Roman by Leona Gom

Autor:Leona Gom [Gom, Leona]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105617397
Herausgeber: FISCHER Digital
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Zehntes Kapitel

Es wurde eine lange Stunde. Vicky wunderte sich, dass Kristin überhaupt erschienen war. Sie hockte lethargisch am Tisch und gab Vicky, wenn überhaupt, nur sehr einsilbige Antworten. Hin und wieder schnippte sie lustlos einen Bleistift über den Tisch, was allerdings selbst der Kater intelligenter angestellt hätte. Vielleicht hatte sie irgendwelche Drogen genommen. Oder es im Gegenteil vergessen.

Vicky sah verstohlen zur Küchenuhr. Halb fünf. Sie wünschte, sie hätte sich den Nachmittag frei gehalten. Aber für Nachhilfestunden waren Wochenenden am günstigsten. Und natürlich hatte sie auch nicht ahnen können, wie sehr sie der Morgen in Bellingham noch nachträglich beschäftigen würde. Vielleicht war es deshalb gar nicht verkehrt, wenn sie arbeitete.

»Wenigstens die letzten beiden Zeilen«, sagte Vicky. »Wenn man die begriffen hat, weiß man meistens, worum es im ganzen Sonett so ungefähr geht.«

»Wahrscheinlich.«

Vicky wartete, aber Kristin sagte nichts mehr.

»›In deiner Liebe fühl’ ich mich so reich,/Daß ich nicht tausche um ein Königreich!‹ Das ist doch ziemlich deutlich, oder?«

Kristin verfolgte mit dem Finger die imitierte Holzmaserung der Resopaltischplatte. »Eigentlich nicht.«

Vicky seufzte und versuchte, nicht die Geduld zu verlieren. Heute schien Kristin sich absichtlich begriffsstutzig zu geben. »Der Dichter ist verliebt, und deswegen fühlt er sich glücklich und reich, so reich wie ein König. Du bist doch ein cleveres Mädchen. Das begreifst du doch. Versuch es beim nächsten Gedicht: ›Siehst du mich so, der balde dich verläßt,/Hält deine Liebe mich so treuer fest.‹ So. Und jetzt erklärst du mir, was das bedeutet.«

»Liebe und Tod. Es sagt alles über Liebe und Tod.«

Na endlich! »Großartig! Liebe und Tod. Genau. Und wie verbindet der Dichter beides?«

Kristin richtete sich im Stuhl auf, nur ein ganz klein bisschen, aber es war ihre lebhafteste Geste in der letzten halben Stunde. »Ich glaube, er will sagen, dass die Liebe nicht dauert. Wir sollten das lieben, was wir haben, weil es bald stirbt.«

»Na, siehst du! Der Rest des Sonetts entwickelt –«

»Alles handelt immer nur vom Sterben!«, brach es plötzlich aus Kristin heraus. »Was soll das eigentlich? Wieso muss ich dieses ganze Zeugs vom Sterben lesen?«

»Der Tod ist ein Thema, das Dichter gerne behandeln.«

»Prima. Sollen sie doch. Aber sie sollen sich bloß nicht einbilden, dass mich das interessiert.«

Vicky machte ganz schmale Lippen und hoffte, es wirke einigermaßen undurchschaubar. Sie nahm sich fest vor, beim nächsten Mal grundsätzlich mit Kristin über ihre Stunden zu reden. Sie waren mittlerweile für beide Seiten nur reine Zeitverschwendung, und Kristin war ohnehin auf dem besten Weg, ihr ganzes Leben zu verpfuschen.

Es klingelte an der Haustür. Das würde Ajit sein, der etwas zu früh kam. Es war ihr gar nicht unrecht.

»Nächsten Sonntag zur selben Zeit?«, fragte sie Kristin.

»Egal.«

Egal. Das war inzwischen ein Wort, das Vicky ganz besonders hasste. Man kann nicht stolz darauf sein, dass man so oft im Leben die Achseln gezuckt hat. Das hatte Vicky irgendwo gelesen, und jetzt hätte sie es am liebsten Kristin zitiert. Die vermutlich die Achseln zucken und »Egal« sagen würde.

Kristin packte ihre Bücher zusammen und fuhr mit den Armen in ihre Jacke, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte.

»Viel Glück bei deinem Test am Mittwoch.



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